CAKE | 28 — Verlustmeldungen
As to the action which is about to begin, it takes place in Poland - that is to say, nowhere.
Ubu Roi, Alfred Jarry
Ich habe mal ein Mutterland verloren. Ein Land, das über Jahrhunderte immer wieder geographische Verluste melden musste; immer mal ein Stück links oder rechts weg. Das es zwischendurch auch mal gar nicht gab, weil es sich drei andere Länder gerissen haben. Seit ich weg bin, zerreißt es mich. Wo auch immer ich hingehe, ich bin nicht dort. Aber solange ich bei mir bleibe, macht mein Aufenthaltsort kaum einen Unterschied. Nur, was heißt das schon? Bleib wie du warst, hat mir mal jemand gesagt. Ich weiß bis heute nicht, ob das böse Absicht oder einfach nur die Grenze ihres Sprachvermögens war. Bleib, wo du warst. Oder geh zurück, wo du herkommst. Zweiteres hört man heute immer öfter. Ständig verschiebt sich irgendwas. Sprache, politische Ansichten, Selbstwahrnehmung, Flüsse, Prioritäten. Und die Grenzen unserer Vorstellungskraft.
Meine Nachbarin trägt nie Kleidung. Nachdem der Baum vor dem Haus alle Blätter verloren hatte und den Blick auf ihre Fenster freigab, sah ich sie zum ersten Mal nackt. Jeden Tag geht sie seitdem von Zimmer zu Zimmer, immer sehr damit beschäftigt, nackt zu sein. Zuerst dachte ich, sie wäre Nudistin, aber ihr Nacktsein hat etwas Besessenes. Es ist, als könnte sie nichts anderes ertragen als nackt zu sein. Als würde sich ihr Leben nur darum drehen, einen Zustand herzustellen, der ihr Erleichterung verschafft und den sie nie vollständig erreichen wird.
Am Ende haben wir alle nur Angst. Und wir verstecken uns hinter Dingen, die uns vor dem Bewußtsein der Endgültigkeit schützen sollen. Wir starten immer wieder neue Ablenkungsmanöver: Alkohol, Doomscrolling, Bingewatching, Neurosen, Shopping. Ständig auf der Suche nach einem Gefühl der Erleichterung - oder dieser einen skandinavischen Lampe, die perfekt zur Schlafzimmereinrichtung passt, und die so schön ist, aber die du aus irgendwelchen Gründen doch nicht kaufen wirst. Wenn du es hast, kannst du es nicht wollen. Früher fand ich Wohnungen mit minimalistischer Einrichtung traurig. Als hätten ihre Bewohner:innen es zu nichts gebracht. Heute ist mir klar, dass sie es einfach vor mir begriffen haben: Sich all diesen Ballast zuzumuten, hindert uns daran, bewußt zu leben. Und das Leben inmitten seiner Endlichkeit zu genießen. Wenn du weißt, dass all das hier jede Minute vorbei sein könnte, dass dein Leben so vergänglich ist wie das Gähnen einer Katze, der Duft von Regen auf trockener Erde oder das Gefühl, dass jetzt gerade alles gut ist, kann die Glühbirne da auch noch ein paar Jahre hängen bleiben. Ist nicht so wichtig.
Mein linker Kopfhörer ist 201 km von mir entfernt. Ich habe ihn in einer Pension an der spanischen Küste vergessen. Habe im Bett ein Buch gehört, und er muss mir im Schlaf rausgefallen sein. Seitdem höre ich nur auf einem Ohr, aber das ist nicht so schlimm. Ich hatte schon immer ein selektives Hörvermögen, kann wirklich gut weghören. Manchmal kommt dennoch an, was mein Mann zu mir sagt, nur eben etwas später, wenn er schon längst den Raum verlassen hat, weil er gemerkt hat, dass ich gerade ganz woanders bin. Morgen fahre ich zurück, um den verlorenen Kopfhörer zu holen. Ich kann ihn nicht einfach so zurücklassen.
Werden die Faschisten mir die deutsche Staatsbürgerschaft entziehen, sobald sie an der Macht sind? Vielleicht. Vielleicht komme ich ihnen zuvor und lege sie selbst ab. Der Verlust der Deutschen Staatsangehörigkeit wäre emotional leicht zu ertragen. Dieses Land wollte mich eh nie. Aber es würde mein Leben sehr erschweren. Und dennoch nehmen die meisten Menschen den zunehmenden Faschismus zu leicht. Wir haben unser Mitgefühl für Andere verloren. Das verdanken wir auch Social Media. Das und die Fotos vom Salattellern unserer Bekannten. Bald könnte eine Nazi-Partei Deutschland regieren, könnten die Amerikaner in Grönland und die Russen in Polen einmaschieren, aber es gibt keinen Grund zur Sorge, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Friedrichs dieses Landes kümmern sich erst einmal um die Ängste der weißen Männer. Sie haben alles im Griff. Ich habe sicherheitshalber meine polnische Staatsbürgerschaft wiedererlangt und seit letztem Jahr einen polnischen Pass. Nur für den Fall, dass mich Männer wie immer enttäuschen und es Deutschland wie wir es kennen bald nicht mehr geben sollte. Amerika gibt’s ja auch so gut wie nicht mehr. Land of the free is lost in fascism.
Es wird wieder Zeit Berlin zu verlassen. Ich brauche Urlaub von der Stadt. Menschen fragen mich zu oft, wie ich das Leben dort finde, seit ich vor fast vier Jahren hingezogen bin. Und ich habe auf diese Frage nie eine gute Antwort. Ich habe Berlin gegenüber keine Gefühle. Nirgends so fremd wie Zuhause, denke ich. Finde kaum etwas befreiender als wegzugehen und an anderen Orten anzukommen - solange es Urlaub und nicht die Flucht ist, mind you. Am Ende wollen wir uns alle des Alltags entledigen wie unbequemer Schuhe. Ich finde ja, ich verdiene ein sockenfreies Leben, bin aber leider einige tausend Kilometer und hunderttausende von Euros davon entfernt. Weiter noch als von einer Heimat oder einem Gefühl der Zuversicht. Beides habe ich auch unterwegs verloren, so um 1988 rum, als ich mit meiner Familie nach Deutschland geflüchtet bin. Seitdem verzweifelt gesucht.